Resiliente & sichere Lieferketten durch digitale Lösungen

Die im Suez-Kanal festgefahrene Ever Given illustrierte in der vergangenen Woche wieder eindrucksvoll, wie relevant stabile Lieferketten für einen reibungslosen Betriebsablauf sind. Nun ist ein blockierter Schiffskanal vielleicht kein regelmäßig auftretendes Phänomen, doch sollten Unternehmen die Risikoanfälligkeit ihrer Lieferketten nicht unterschätzen.
In einer Studie des Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME) gaben 77% der befragten Unternehmen an, in einem Jahr mindestens eine Unterbrechung in der Lieferkette zu verzeichnen. 27% berichteten sogar über mehr als fünf Unterbrechungen. Was hier helfen kann, sind digitale Lösungen.

Einen Überblick über Lösungen und Innovationspotenziale gab am 23. März unser Fachgespräch, das wir gemeinsam mit der Wirtschaftsförderung Rhein-Kreis Neuss organisierten. Fünf Experten stellten in ihren Impulsvorträgen verschiedene Lösungsansätze vor. Darunter Marco Motta vom IML Fraunhofer Institut, Eduard Erhart von IBM Österreich, Falk Nieder der European EPC Competence Center GmbH, Matthias Frye von Orbica und Moritz Teriete der Sustainable Food Systems GmbH.
 
Marco Motta, Abteilungsleiter Supply Chain Engineering beim Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML, eröffnete die Veranstaltung mit einem Grundlagenvortrag zu den Risiken und Digitalisierungspotentialen in der Lieferkette für Unternehmen der Ernährungswirtschaft.
 
Falk Nieder, Head of Software and Traceability Solutions bei European EPC Competence Center GmbH (EECC), in Neuss gab einen Überblick in die klassischen Problemfelder in der Lebensmittel-Lieferkette und teilte die Lösungen aus seiner langjährigen Erfahrung mit Gesellschaftern wie METRO, LIDL, DHL und GS1. Das EECC erstellt Track & Trace-Lösungen für Lieferketten auf Basis von GS1 Standards. 
 
Matthias Frye​, Director of Marketing and Sales Europe, bei Orbica UG sprach in seinem Vortrag über die intelligente Nutzung geographischer Daten, um Risiken frühzeitig zu erkennen und zielführende Resilienzmaßnahmen zu definieren. 

Eduard Erhart, IBM Sterling Solutions Engineer bei IBM Österrreich unterstützt Unternehmen dabei, Softwarelösungen für das breite Thema des Lieferketten Managements einzusetzen. In seinem Vortrag zeigte Eduard, wie Unternehmen aus Datenchaos Datentransparenz machen und Technologien dabei helfen können. 
 
Moritz Teriete, Geschäftsführer der Sustainable Food Systems GmbH, sprach über die “Nachhaltigkeitsbewertung und Minimierung von Nachhaltigkeitsrisiken in Lebensmittellieferketten”.
 
Was sind die Risiken und wie können Digitalisierungsstrategien diese minimieren?
Herausforderungen in der Lieferkette ziehen sich durch die gesamte Lieferkette – von der Produktion bis hin zum Endkunden/ Händler. Hierbei können folgende Risiken auftreten, für deren Lösung jedoch ein IT-gestützter Managementprozess der Supply Chain sinnvoll ist:
•      Falsche Lieferung
•      Lieferengpässe
•      Quarantäne im Zoll
•      Verspätungen im Transport
•      Kapazitätsengpass
•      Maschinenwartung
•      Maschinenausfall
•      Naturkatastrophen
•      Unzureichende Personalverfügbarkeit
•      IT-Ausfall
•      Ungünstige Verkehrslage
•      Streiks
•      Handelshemmnisse/ Handelsabkommen
•      Produktlebenszyklen
 
Hier müssen Unternehmen und Disponenten strategisch und taktisch potenziell kritische Faktoren identifizieren. Dies gilt in besonderem Maße für die Ernährungswirtschaft, deren Inputs (Agrarprodukte) sehr lange Latenzen haben: Engpässe können nur eingeschränkt beschleunigt werden. Auch wenn niemand auf beispielsweise Naturkatastrophen Einfluss hat, kann man zumindest vorausschauend Lösungswege planen.

Die kritischen Phasen zu identifizieren und zu bewerten, dabei kann Digitalisierung beispielsweise unterstützen. Das IML Fraunhofer-Institut sammelt dazu Informationen über sogenannte "Events" aus der physischen Supply Chain, die dann für Simulationen eingesetzt werden können. Diese digitalen Modelle der einzelnen Abläufe zeigen außerdem das Zeitverhalten, um verschiedenste mögliche Szenarien durchzuspielen. Darüber hinaus gibt es die Möglichkeit, externe Daten-Quellen, wie DHL R360, USGS earthquakes, GDACS floods anzubinden, die auf zu erwartende künftige Risiken, wie Naturkatastrophen, aufmerksam machen. 
 
Sicherheit und Rückverfolgbarkeit von Produkten in der Lieferkette
Rückverfolgbarkeit ist ein anderes zentrales Element Lieferkette, das von Digitalisierung profitieren kann. In diesem Fall heisst "sichere Lieferkette": wird das angeliefert, was vom Lieferanten avisiert wurde. Stimmen Produkte und Chargen überein, und wann sollen sie geliefert werden? Weitere Risiken in Transit können sein, dass verderbliche Produkte nicht ausreichend kontrolliert werden und es bei beispielsweise einer Unterbrechung der Kühlkette keine (eigentlich notwendige) Warnung gibt. Die Lösung für sichere Lieferketten ist es hier, Sensorik an die Produkte anzubringen. Die GS1 hat dazu einen sogenannten EPCIS 2.0 Sensor entwickelt, der Daten wie Temperatur, Schock, Helligkeit etc. ermittelt, um somit die Lieferketten zu überwachen. 

Bei möglichen Recalls der Ware kann man durch eine genaue Planung der Lieferungen zielgerichtet diese Ware zurückrufen. GS1 bietet hier eine Traceability-Lösung (EPCIS) an, mit der man gezielt schauen kann, welche Ware vom Recall betroffen ist und wo genau sie ausgeliefert wurde.
 
Vorhersage von Risiken in der Supply Chain
Das Start-up Orbica hat es sich zur Aufgabe gemacht, mit Predictive Analytics Vorhersagen über mögliche Risiken in der Supply Chain machen zu können. Das erste Produkt ist in Zusammenarbeit mit arviem entwickelt worden und monitored die Kondensation in (Seefracht-)Containern. Hier kommt es nämlich besonders bei Lebensmitteln die einen weiten Weg durch verschiedene Klimazonen zurücklegen müssen zu Verlusten.
Sinken beispielsweise die Temperaturen kann die Luftfeuchtigkeit im Container auf über 100% steigt, was zu Kondensationseffekten wie Schimmel und Feuchtigkeitsschäden führen kann. Natürlich gibt es hier die Möglichkeit, den Container zu belüften, Trocknungsmittel zu verwenden, zuvor zusätzliches Verpackungsmittel im Container zu verwenden etc. 
Doch all dies ist mit Kosten verbunden.

Die Lösung von Orbica: die Vorhersage, ob es zu solchen Gefahren kommen kann. Orbica und arviem haben dazu ein Sensor-Device entwickelt, das Erschütterungen aber auch Luftfeuchtigkeit und Innentemperatur im Container misst und diese Datensätze sammelt. In einem aus diesen 500.000 Datensätzen kalibrierten „Predictive Model“ wurde daraufhin untersucht, welchen Einfluss die verschiedenen Faktoren wie Wetterbedingungen zum Zeitpunkt der Verladung, Wetterbedingungen während des Transports und Produkteigenschaften, auf die Kondensation im Container haben. So kann aus Datensätzen anhand von Machine Learning für einzelne Speditionen ein Kondensationsrisiko berechnet werden.

Orbica ist übrigens ein Start-Up des aktuellen Batch #5 des Startport Accelerators. Mehr darüber hier.
  
Wie kommen nun alle diese Informationen und Analysen an die Mitarbeiter, die die Supply Chain im Auge behalten und die Probleme, die entstehen, lösen?

Hierzu teilte IBM die drei wichtigsten Erfahrungen mit den Teilnehmern.
1. Datentransparenz: Im Wesentlichen sollte jeder Akteur in der Supply Chain über alle wichtigen Informationen, Abweichungen und Daten der Lieferkette informiert sein. Die Kunst ist es, all diese Daten zu integrieren und vor allem zu korrelieren, denn diese Daten kommen von ganz verschiedenen Absendern und erreichen nicht notwendigerweise alle Akteure. Datentransparenz aus Datenchaos kann eine einzelne Plattform schaffen, auf der alle Daten zusammenlaufen.

2. Teaming: Bei komplexen Zusammenhängen wie Lieferketten bietet sich der Einsatz von künstlicher Intelligenz an, um das Team zu unterstützen. IBM hat zu diesem Zweck einen Team-Chat entwickelt, in dem Auftraggeber, Händler, Lieferant, Spediteur etc. zusammenkommen, um einen Fall gemeinsam abzuwickeln. In diesem Chat befindet sich außerdem „Watson“, die künstliche Intelligenz der IBM, die relevante Unterstützungshilfen gibt. Watson checkt die Chatverläufe nach bestimmten Parametern, kann auf alle Daten zugreifen, sie korrelieren, strukturieren und bewerten, um dann die entsprechenden hilfreichen Optionen zur Lösung des Problems anzubieten. 

3. Best practices erstellen: da die künstliche Intelligenz nun ohnehin alle Daten im Chat erfasst, kann diese nun daraus Best Practises für die Zukunft erstellen. Wenn sich ein gleiches Schema, das schon einmal passiert ist und im Chat geäußert wurde, in Zukunft noch einmal abspielt, hat die KI dann sofort die richtige Lösung für das Problem parat.  
 
Nachhaltigkeitsherausforderungen in der Lieferkette
Nachhaltigkeit hat sich in Anbetracht der veränderten Konsumentenwünsche zu einem Attribut entwickelt, das in der Vermarktung von Lebensmitteln offensiv eingesetzt wird. Das Risiko: die Daten, die diesen Aussagen zu Grund liegen sind nicht standardisiert und werden daher von Unternehmen unterschiedlich interpretiert, so Moritz Teriete von Sustainable Food Systems.

In Anbetracht der von Konsumenten geforderten Transparenz der Lieferkette, beispielsweise zum CO2 Fußabdruck, zum Einsatz von Kinderarbeit oder der Abholzung des Regenwaldes, verbirgt sich hier ein Reputationsrisko für Unternehmen. Doch auch veränderte politischen Rahmenbedingungen erhöhen den Veränderungsdruck auf die Unternehmen der Ernährungswirtschaft. Stichworte sind hier das Lieferkettengesetz und CSR-Berichtspflicht.

Aktuell fehlt vielen Unternehmen für eine wirkliche authentische und glaubwürdige Kommunikation ein wissenschaftlich fundiertes System, dass die für sie relevanten Daten aus der Lieferkette erhebt, berechnet, bewertet und regelmäßig monitored.
 
Für Hersteller von Endprodukten oder auch Händler kann dies besonders kritisch sein, denn sie sind zwar die Inverkehrbringer des Produkts, haben aber nur begrenzten Einfluss auf die dessen Nachhaltigkeitsniveau. Wie der "Umweltatlas: Lieferketten Schweiz" des Bundesamt für Umwelt 2019 zeigte, beträgt der Anteil der Rohstoffgewinnung bei den Umweltauswirkungen des Handels zwischen 59 und 100 % (Download der Studie hier, startet automatisch).

Um diese stark verzweigten und komplexen Lieferketten sichtbar zu machen, und die "Black Box der Daten" aufzubrechen, entstehen erste digitale Lösungen, wenn aber noch lange nicht in dem Ausmaß und der Tiefe, wie es erforderlich wäre. Ein Beispiel aus unserem Netzwerk ist das Start-up Sustainabill aus Köln. Es bietet eine Software-Lösung, um Lieferketten abzubilden.

Eine Veranstaltung vom Foodhub NRW und der Wirtschaftsförderung des Rhein-Kreis Neuss
„Risiken in der Lieferkette – Digitalisierung schafft Lösungen“ wurde von der Wirtschaftsförderung des Rhein-Kreis Neuss und dem Foodhub NRW als Teil der Digitalisierungsstrategie für die Wirtschaft im Rhein-Kreis Neuss organisiert. 
 
„Die Lebensmittelwirtschaft gehört zu einer der Kernbranchen im Rhein-Kreis Neuss. Vor allem vor dem Hintergrund des Strukturwandels und der Corona-Pandemie ist die Absicherung von Lieferketten und die Digitalisierung dieser von großer Bedeutung, um Arbeitsplätze und Wertschöpfung weiterhin zu sichern“, so Kreisdirektor Dirk Brügge im Rahmen seiner Begrüßung.

Kreisdirektor Brügge präsentierte außerdem das Projekt LaunchCenter für die Lebensmittelwirtschaft (LCL), welches der Rhein-Kreis Neuss gemeinsam mit der Hochschule Niederrhein im Rahmen des Sofortprogrammes PLUS der Zukunftsagentur Rheinisches Revier GmbH plant. Mit ihm soll dem Strukturwandel im Rheinischen Revier aktiv begegnet werden und die Zukunft der Ernährungswirtschaft in der Region mitgestaltet. 
Schwerpunkte des Projektes liegen in der Verarbeitung pflanzlicher Rohstoffe und alternativer Proteine, Qualitäts-, Sicherheits,- & Lebensmittelrechtliche /gesundheitliche Bewertung, Produkt- & IT-Prozessentwicklung sowie Lebensmittelbiotechnologie, Lebensmittellogistik und Analytik.
 
Wir danken allen Referenten, Teilnehmern, Kreisdirektor Brügge und der Wirtschaftsförderung Rhein-Kreiss Neuss für die gelungene Veranstaltung!

Geschrieben von

Lea Sustersic

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