Eine Vielzahl von Start-ups und Unternehmen entwickeln auf den unterschiedlichen Stufen der Wertschöpfungskette Geschäftsmodelle und Produkte, um die Lebensmittelverschwendung zu reduzieren. Seit unserer Nacht der Ideen gegen Lebensmittelverschwendung im Oktober 2019 ist viel passiert – Zeit für ein Update! - Wäre Lebensmittelverschwendung ein Land, wäre es der drittgrößte CO2-Emittent, direkt hinter China und den USA.
- Statistisch betrachtet landet genau ein Drittel unseres Wocheneinkaufs irgendwann ungenutzt in der Tonne. Laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind das pro Jahr weltweit rund 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel.
- Allein in Deutschland werden jedes Jahr insgesamt rund 12 Millionen Tonnen Lebensmittel verschwendet, alleine in Privathaushalten landen jährlich rund 75 Kilogramm Lebensmittel pro Kopf im Müll.
Was können wir dagegen tun, wo sind die Brandherde für Lebensmittelverschwendung und welche neuen Geschäftsmodelle und Produktinnovationen können der Lebensmittelverschwendung entgegenwirken?
Die Treiber entlang der Wertschöpfungskette
Insgesamt wird circa jedes dritte Lebensmittel auf dem Weg vom Feld zum Teller des Verbrauchers verschwendet. Lebensmittelverschwendung lässt sich also in
jeder Station der Kette zwischen Produktion und Endverbraucher finden.
Die Ursachen davon sind vielfältig und beginnen bereits in der Landwirtschaft:
Aufgrund der strengen Handelsstandards und hohen Anforderungen des Supermarkts oder der verarbeiteten Lebensmittelindustrie wird ein Teil der Ernte vor Ort auf dem Feld aussortiert. Dort verderben außerdem Lebensmittel durch falsche Lagerung, Schädlingsbefall, und Unwetter. Außerdem werden einige Erzeugnisse aufgrund unzureichender Abnehmer auf dem Markt weggeworfen. Die Landwirtschaft hat damit einen Anteil von 12 Prozent (1,4 Mio. Tonnen) an den gesamten Lebensmittelabfällen in Deutschland.
Während der darauffolgenden Lebensmittelverarbeitung können Verluste durch Transportschäden, falsche Lagerung oder technische Ursachen entstehen. In Deutschland macht dies circa 2,2 Millionen Tonnen Abfall und damit jährlich 18 % der Lebensmittelabfälle aus. In dieser Stufe werden oft auch Nebenströme von Produkten, also die wertvollen Reststoffe, die nach der Produktion von Lebensmitteln überbleiben, weggeschmissen. Und das, obwohl sie weiterverarbeitet werden könnten. Auch hier gehen also trotz erster Verarbeitung weitere ungenutzte Lebensmittel(-reste) verloren.
Nun fließen die übrig gebliebenen Lebensmittel entweder in den Groß- und Einzelhandel oder die Gastronomie. Doch auch von dort aus schaffen es nicht alle Lebensmittel zum Endverbraucher.
Im Lebensmitteleinzelhandel entstehen bis zu 4 % aller deutschen Lebensmittelabfälle. Wenn eine einzige Mandarine im Netz verdorben oder verschimmelt ist, wird sofort das gesamte Netz weggeworfen. Darüber hinaus fordern Kunden eine breite Palette an optisch ansprechenden Produkten, was dazu führt, dass viele Produkte gar nicht erst vermarktet werden oder so lange im Regal liegen bleiben, bis sie verderben und entsorgt werden müssen. Auch das Mindesthaltbarkeitsdatum spielt hier eine große Rolle: ist das MHD bald erreicht, gilt die Ware nicht mehr als verkäuflich.
Laut einer
Erfassung des Johann Heinrich von Thünen-Instituts lag 2019 die Menge der Produkte, die nicht mehr im LEH verkauft werden konnten, bei 418.000 Tonnen. Nach Abzug der Spenden an karitative Einrichtungen wurden „nur“ noch 290.000 Tonnen weggeworfen. Hinter dieser Verlustmenge stecken Abschreibungen in Höhe von knapp 2,5 Milliarden Euro.
In der Gastronomie ist Lebensmittelverschwendung meist auf schlechte Planbarkeit, falsche Lagerung der Lebensmittel und strenge Hygiene- und Produktvorschriften zurückzuführen. Da Unternehmen oft nicht wissen, wann wie viel von welchem Produkt/Gericht bestellt wird, gehen diese oft auf „Nummer sicher“ und kaufen die Produkte im Überfluss. Bei mangelnder Nachfrage kommt es jedoch dazu, dass diese langsam verderben und weggeschmissen werden. Die Gastronomie macht insgesamt 14 % (1,7 Mio. t) aller Lebensmittelabfälle in DE aus.
Beim Endkonsumenten im privaten Haushalt landen letztendendes dann die Lebensmittel, die es final durch alle vorherigen Stationen geschafft haben. Und trotzdem werden hier noch Unmengen an Lebensmitteln verschwendet: insgesamt 52 % aller Lebensmittelabfälle in Deutschland sind den privaten Haushalten geschuldet, das sind 6.1 Millionen Tonnen pro Jahr. Gründe dafür sind falsche Lagerung, mangelhafte Einkaufsplanung und auch hier wieder das falsch verstandenen Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD):
Entgegen des Mythos, dass das MHD ein Verfallsdatum ist und Lebensmittel danach nicht mehr verzehrbar sind, ist das Mindesthaltbarkeitsdatum ein Marker, der anzeigt, bis wann ein ungeöffnetes Produkt typische Eigenschaften wie Geschmack, Farbe oder Nährwerte garantiert behalten sollte; vorausgesetzt es ist korrekt gelagert.
Lebensmittel, deren MHD abgelaufen ist, sind daher nicht automatisch verdorben, sondern normalerweise noch genießbar. Grundsätzlich sollten jedoch vor dem Verzehr immer geprüft, ob das Produkt noch essbar ist: alles, was sich in Geruch, Geschmack oder Farbe geändert hat, sollte nicht mehr konsumiert werden.
Lediglich das Verbrauchsdatum weist darauf hin, dass Lebensmittel, die dieses Datum überschritten haben, unbedingt entsorgt werden sollen, um gesundheitliche Risiken zu vermeiden. Dieses Verbrauchsdatum findet sich ausschließlich bei besonders leicht verderblichen Lebensmitteln.
Was können wir selbst gegen Lebensmittelverschwendung tun?
Wir müssen unsere Einkäufe besser planen und in Mengen kaufen, die wir auch verbrauchen können. Außerdem müssen wir lernen, Produkte richtig zu lagern und verstehen, dass diese in den meisten Fällen auch nach Ablauf des MHD noch verzehrt werden können. Doch eines der wichtigsten Dinge ist, dass wir bereit dazu sein müssen, auch krummes und optisch eher „unschönes“ Gemüse zu kaufen, damit diese gar nicht erst vor Erreichen des Groß- und Einzelhandels aussortiert und weggeschmissen werden müssen.
Geschäftsmodelle gegen Lebensmittelverschwendung
Stufe Landwirtschaft:
Der
Lammertzhof, ein Demeterhof in Kaarst baut mit viel Sorgfalt Gemüse, Kartoffeln und Getreide an. Besitzer Heinrich Hannen engagiert sich bereits weitläufig: er ist seit über 10 Jahren Mitglied im Verband Öko Kiste e.V. mit Vertrieb der saisonalen Bio-Kiste im Abo mit über 2.400 Kunden.
„In Sachen Lebensmittelrettung hat sich [seit 2019] noch einiges entwickelt. Mittlerweile kommen regelmäßig zwei Gruppen (The Good Food, Food Sharing) an drei Tagen die Woche, um wöchentlich bereitstehende von uns aussortierte Lebensmittel zu sortieren oder nachzuernten und mitzunehmen. Unregelmäßig kommen Gruppen, nach Absprache zum Nachsortieren und Nachernten (www.sattmacher.nrw). Wir verkaufen zahlreiche unserer Produkte als 2. Wahl und wir haben trotz Corona an zwei Nacherntetagen im September etwa 600 Menschen nach Anmeldung zur Nachernte hier auf dem Hof gehabt. Zusätzlich gingen an drei Bioland-Kollegen Abfallmöhren und Kartoffeln zur Verfütterung.
Ansonsten lag in den letzten Monaten unser Focus auf CO² freie Auslieferung per Lastenrädern und E-Lieferwagen. Zurzeit bauen wir unser Ladesäulennetz und entwickeln ein Containersystem für die Fahrradauslieferung. Viel unserer Arbeits- und Entwicklungskapazität wird aber durch den Corona bedingten Mehrumsatz und den damit verbundenen Ausbau unserer Kapazitäten (Beschaffung regionalem Gemüse, Kundenbetreuung, Packstraßen und Transport) gebunden“, so Hannen.
Jacky F. ist ein nachhaltiges Food Startup, dass 2016 die Bio-Jackfruit nach Europa brachte.
Auf Sri Lanka wurden große Teile der Jackfrucht Produktion nicht geerntet, weil es keinen Markt dafür gab, doch diese Bäume dürfen auch nicht gefällt werden. Dies führt dazu, dass etwa ein Drittel aller Früchte noch am Baum verderben. Jacky F. hat das geändert: In enger Zusammenarbeit mit Partnern vor Ort, bauten sie
nachhaltige, soziale Lieferketten auf, um Bio-Jackfruits von Sri Lanka nach Europa zu bringen. Diese sind nun unter anderem in Deutschland im Bio-Handel zu finden. Das Team von Jacky F. will in Zukunft prüfen, welche neuen Produkte aus Rohstoffen entwickelt werden können, die in der heimischen Landwirtschaft als Abfall anfallen und noch mehr Lebensmittel retten.
Auch
etepetete aus München und
Rettergut aus Berlin setzen sich für die Rettung von Lebensmitteln, genauer gesagt von Obst und Gemüse ein. etepetete rettet Bio-Obst und Gemüse, das nicht der Norm entspricht und daher oft nicht verkauft wird und stellt daraus Bio-Boxen, die auf ihrer Website bestellt werden können, zusammen.
Rettergut hingegen rettet Obst und Gemüse, aber auch Schokolade und andere Lebensmittel von Landwirten, Zwischenhändlern und Produzenten und verarbeitet sie zu leckeren und hochwertigen Produkten, wie bspw. Pestos, Aufstriche und Suppen.
Stufe Lebensmittelverarbeitung:
FoodTracks, ein Start-up aus Münster, haben eine Controlling & Forecasting-Software entwickelt, die Bäckereien einzigartige Analysen und Handlungsempfehlungen für Bestellplanung, Verkauf und Bezirksleitung liefert. Denn auch Bäckereien verschwenden ungewollt große Mengen an Backwaren, da sie mehr produzieren, als sie verkaufen. Laut einer
Studie des WWF werden in Deutschland jährlich bis zu 19% der produzierten Backwaren zu Tierfutter, zur Energiegewinnung weiterverarbeitet oder landen als Abfall in der Tonne, das sind unglaubliche zwei Millionen Tonnen Backwaren. Mit der Software von FoodTracks produzieren Bäckereien künftig nur das, was realistisch zu verkaufen ist.
Seit 2017 rettet
Veggie Specials vegane Bio-Lebensmittel, die über den Handel nicht (mehr) verkauft werden können und verkauft sie über ihren Onlineshop. Das Unternehmen kauft Lebensmittel direkt bei den Herstellern, die z.B. nicht mehr lang genug haltbar sind, um im Supermarkt verkauft zu werden, deren Etiketten fehlerhaft bedruckt sind, die etwas weniger wiegen als auf der Verpackung angegeben, die überproduziert wurden oder die in Sachen Konsistenz, Größe und Farbe nicht der Norm entsprechen.
Auch
SIRPLUS führt Lebensmittel als Händler zurück in den Kreislauf. Das Berliner Start-up verkauft überschüssige Lebensmittel, die kurz vor oder nach dem Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) stehen oder nicht der Norm entsprechen, in ihren sechs sogenannten „Rettermärkten“ in Berlin und per Online-Shop mit Lieferung innerhalb des gesamten Bundesgebiets. Durch die Zusammenarbeit mit 700 Produzenten und Großhändlern gelingt es SIRPLUS, Lebensmittel zu retten, die die Tafeln nicht abholen, die aber trotzdem verzehrbar und genießbar sind. So wurden seit 2017 über 2.500 Tonnen Lebensmittel gerettet.
Doch nicht nur in Berlin sondern auch in NRW, genauer in Köln und Münster, gibt es bereits Start-ups, die solche Retail Konzepte anbieten.
The Good Food verkauft Lebensmittel, die sie in bei Landwirten und Produzenten vor dem Müll gerettet haben in mehreren kleinen Lädchen in Köln. Seit 2019 gibt es die
fairTEiLBAR in Münster. Die Besonderheit dieser Konzepte: Man kann die Lebensmittel nach dem Prinzip „Zahl, was es dir Wert ist“ kaufen, den Preis legt also der Kunde fest. Die beiden Start-ups kollaborieren außerdem gelegentlich, um Kunden einen attraktiven Produkt-Mix anzubieten.
Stufe Nebenströme:
Das junge Start-up
ZestUp aus Lemgo hat es sich zur Aufgabe gemacht, Nebenströme von Lebensmitteln weiterzuverarbeiten, genauer, die Schale von Citrusfrüchten. ZestUp hat aus der Schale von Bio-Orangen, die bei der Saftproduktion von Supermärkten und Gastronomien als Nebenprodukte anfallen, ein Erfrischungsgetränk entwickelt. Ohne künstliche Zusatz- und Inhaltsstoffe; der komplette Fruchtgehalt wird aus der Schale von Bio-Orangen gewonnen.
Auch
LeRoMa aus Düsseldorf möchte mit ihrem Lebensmittelrohstoffmarkt kontinuierlich zur Reduzierung von Verschwendung an Lebensmittelrohstoffen beitragen. Sie haben in ihre Plattform eine Überschussbörse integriert. Auf der Plattform werden außerdem Nebenströme angeboten. So können diese Reststoffe, die sonst weggeschmissen werden, von anderen Unternehmen weiterverarbeitet werden.
Im Rahmen des EU-geförderten Projekts Lowinfood entwickelt LEROMA jetzt interdisziplinär mit Partnern aus ganz Europa konkrete Lösungsansätze für die Verschwendung an Lebensmittelrohstoffen am Anfang der Wertschöpfungskette, mehr dazu
hier.
Stufe Lebensmitteleinzelhandel und Gastronomie: To Good To Go hat mit ihrem innovativen Geschäftsmodell eine Bewegung gegen Food Waste ins Rollen gebracht. Das Unternehmen mit Sitz in Berlin hat eine App entwickelt, die es Gastronomiebetrieben und Einzelhändlern ermöglicht, nach Ladenschluss ihre übrig gebliebenen Lebensmittel zu reduzierten Preisen anzubieten. Kunden können über die App eine Wundertüte mit zufälligen Zutaten kaufen und dann vor Ort im Geschäft abholen. Derzeit kann To Good To Go bereits 4,9 Millionen App-Nutzer und 6.533 Cafés, Restaurants, Supermärkte, Bäckereien und Hotels, die ihre Überschüsse anbieten, verzeichnen. Somit wurden mittlerweile insgesamt 6,8 Millionen Portionen Lebensmittel gerettet.
Besonders schwer haben es in der Gastronomie vor allem die Endstücke von Broten. Diese, wie man im Hessischen sagt, „Knärzje“ landen bei vielen Verbrauchern und Bäckereien in der Tonne, obwohl man sie eigentlich problemlos verzehren könnte. Das Frankfurter Start-up
Knärzje nimmt genau diese aussortierten Krusten von Broten und braut daraus das erste ökologisch zertifizierte Zero-Waste-Bier Deutschlands. Seit diesem Frühjahr ist es deutschlandweit bei Alnatura erhältlich.
Angesichts der zunehmend knapp-werdenden Ressourcen, insbesondere des fruchtbaren Ackerlandes, dürfen wir es uns in Zukunft nicht mehr leisten, mit unseren Lebensmitteln verschwenderisch umzugehen. So sollte ein sorgsamer und wertschätzender Umgang mit Lebensmitteln für uns selbstverständlich sein und daran müssen wir in Zukunft weiterarbeiten.